Jeden Morgen sitzt Amina geduldig am Bett ihres Vaters. Seit seinem Schlaganfall ist der ehemalige Lehrer auf der rechten Körperseite gelähmt. Es gibt keinen Ergotherapeuten in ihrem Dorf – ja, im ganzen Umkreis nicht. Also übernimmt Amina die Rolle der Therapeutin: Sie hilft ihrem Vater, eine Tasse zu greifen, übt mit ihm mühsam das Anziehen des Hemdes und motiviert ihn, jeden Tag ein paar Schritte mehr an der Hand zu gehen. Solche Szenen spielen sich täglich in vielen afrikanischen Gemeinden ab. Ergotherapie in Afrika steht vor enormen Herausforderungen, doch mitten in diesen Schatten keimt Hoffnung – getragen von Kreativität, Gemeinschaftsgeist und kultureller Stärke.
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Mangelware Ergotherapeut: Eine Lücke im Gesundheitssystem
In weiten Teilen Afrikas gibt es viel zu wenige ausgebildete Ergotherapeuten. Manche Länder verfügen über fast gar keine Ergotherapeuten im öffentlichen Gesundheitssystem. So ergab eine Untersuchung in Ghana, dass es dort landesweit keine Ergotherapeuten und nur eine Handvoll Physio- und Reha-Fachkräfte gibt – mit der Folge, dass viele Patienten keinerlei Zugang zu Therapie und Hilfsmitteln haben. Die Situation ist kein Einzelfall: Von 54 afrikanischen Ländern verfügen lediglich zwölf über einen eigenen Ergotherapie-Berufsverband und etablierte Ausbildungsprogramme. In vielen anderen Ländern befindet sich der Beruf erst im Aufbau oder ist gänzlich unbekannt. Besonders gravierend ist die Lage in ländlichen Regionen, fernab der wenigen städtischen Rehazentren. Selbst in fortschrittlicheren Ländern wie Südafrika konzentrieren sich die meisten Therapeuten in den Städten, während Dörfer oft leer ausgehen. Um dem entgegenzuwirken, müssen neue Ergotherapie-Absolventen in Südafrika ein Pflichtjahr in ländlichen Gebieten leisten – doch vor Ort fehlen oft Materialien, Infrastruktur und fachliche Unterstützung. Viele Therapiegeräte oder Rollstühle, die über staatliche Stellen verteilt werden, kommen in entlegenen Dörfern gar nicht erst an. Die Folgen dieses Fachkräftemangels sind in ganz Afrika spürbar: Nach Unfällen, schweren Krankheiten oder bei Behinderungen erhalten unzählige Menschen keine angemessene Rehabilitation. Familien stehen dann alleine vor der Aufgabe, ihre Angehörigen bestmöglich zu unterstützen, so gut sie eben können.
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Wege zu den Menschen: Gemeindenahe Rehabilitation als kreative Lösung
Aus der Not heraus haben sich in Afrika kreative Ansätze entwickelt, um die Lücke an Fachpersonal zu überbrücken. Ein Schlüsselbegriff dabei ist die gemeindenahe Rehabilitation – im Englischen Community-Based Rehabilitation (CBR). Dahinter steht die Idee, Rehabilitation ins Dorf und in die Familie zu bringen, anstatt auf seltene Spezialkliniken in der Ferne zu warten. Community-basierte Programme setzen darauf, ganze Gemeinschaften zu befähigen, Menschen mit Behinderung zu unterstützen, Chancengleichheit und soziale Inklusion zu fördern. Oft werden dabei lokale Helfer oder Angehörige von Fachkräften in grundlegenden Therapietechniken geschult. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und nationale Verbände betonen, dass Ergotherapeuten in Afrika sich der gemeindenahen Rehabilitation verpflichtet fühlen. In der Praxis bedeutet das: Ergotherapeuten agieren als Trainer und Berater, die Wissen und Fähigkeiten an Dorfbewohner weitergeben, und manchmal arbeiten sie direkt vor Ort “hands-on” im Dorf. Dadurch wird Rehabilitation auch dort möglich, wo keine permanente Fachkraft verfügbar ist.
Allerdings stehen CBR-Programme vor Herausforderungen. Oft bleiben sie auf Städte beschränkt und erreichen die entlegenen ländlichen Gemeinden nicht ausreichend. Zudem liegt der Fokus mancher Projekte eher auf Bildung und sozialer Teilhabe und weniger auf konkreten gesundheitsbezogenen Therapien. Doch genau hier können Ergotherapeutinnen und Ergotherapeuten ansetzen: Mit der richtigen Unterstützung können sie durch CBR-Strategien helfen, die Versorgungslücke auf dem Land zu schließen. Positive Beispiele gibt es bereits. So wurde in Tansania ein gemeindebasiertes Trainingsprogramm ins Leben gerufen, das Menschen mit körperlicher Behinderung neue berufliche Fähigkeiten vermittelte – mit dem Ergebnis, dass viele Teilnehmer anschließend eigenes Einkommen erwirtschaften konnten und wieder aktiver am Dorfleben teilhatten. Auch im Rehabilitationszentrum Gahini in Ruanda, einem von einer Kirche betriebenen Projekt, hat man erkannt, wie wichtig der gemeindenahe Ansatz ist: Das Zentrum bietet nicht nur Chirurgie und Therapien vor Ort an, sondern betreibt auch gemeindenahe Rehabilitation, um Menschen in umliegenden Dörfern zu erreichen. Solche Initiativen zeigen, wie mit Einfallsreichtum und lokalem Engagement Barrieren überwunden werden können.
Ein weiteres kreatives Erfolgsbeispiel kommt aus Ghana. Nachdem über Jahrzehnte fast kein Ergotherapeut im Land tätig war, richtete Ghana 2012 seinen ersten Studiengang für Ergotherapie ein. Die ersten 16 Absolventen schlossen ihr Studium 2016 ab und begannen in Krankenhäusern zu arbeiten – ein Meilenstein für das Land. Doch damit nicht genug: Weil weiterhin viel zu wenige Fachkräfte zur Verfügung stehen, hat Ghana zusätzlich einen neuen Berufsweg geschaffen – die Ausbildung von Ergotherapie-Assistenten. Diese Assistenten mit kürzerer Trainingszeit unterstützen die wenigen Ergotherapeuten bei der Umsetzung der Behandlungspläne und führen Therapien praktisch durch. So kann mit begrenzten Mitteln mehr Patienten geholfen werden. Gleichzeitig erfordert der Mangel an High-Tech-Hilfsmitteln im Land findige Lösungen: Viele Hilfsmittel werden improvisiert oder lokal hergestellt, weil teure Importprodukte fehlen und Ersatzteile Mangelware sind. Ergotherapeuten und Patienten in Ghana sind gezwungen, gemeinsam kreativ zu werden – sei es durch angepasste Rollstühle aus lokalen Materialien oder simple Schienenkonstruktionen, die ihren Zweck erfüllen. Dieses Prinzip der einfachen, aber wirksamen Mittel zeigt sich in vielen Ländern Afrikas: Not macht erfinderisch, und die Betroffenen entwickeln zusammen mit Helfern Lösungen, die kulturell akzeptiert und bezahlbar sind.
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Wenn ein ganzes Dorf therapiert: Familie und Freiwillige packen mit an
Besonders eindrücklich zeigt sich die Bedeutung von Familie und Dorfgemeinschaft beim Thema Schlaganfall. Durch bessere Lebensbedingungen und veränderte Lebensweisen steigt die Zahl der Schlaganfälle in afrikanischen Ländern – doch spezialisierte Reha-Stationen oder Therapiepraxen sind die Ausnahme. In ländlichen Regionen gibt es oft überhaupt keine Schlaganfall-Rehabilitation. Ein Beispiel: In ländlichen Distrikten Südafrikas existieren weder Stroke Units noch Reha-Kliniken. Schlaganfallpatienten verbleiben dort im Durchschnitt nur fünf Tage im Krankenhaus und werden dann nach Hause entlassen –zurück in Dörfer ohne Therapeuten. Die Familie muss die Pflege und Übungen übernehmen, ohne professionelle Anleitung. Verständlicherweise stoßen Angehörige dabei schnell an ihre Grenzen. Die Folgen: Viele Überlebende eines Schlaganfalls behalten weitreichende Behinderungen, weil sie nicht richtig trainiert wurden, und ihre Angehörigen sind körperlich wie seelisch überlastet.
Um diesem stillen Drama etwas entgegenzusetzen, setzen einige Länder auf Helfer aus der Gemeinde. In Südafrika zum Beispiel werden sogenannte Community Health Workers (CHWs) – das sind Gemeindegesundheitshelfer – gezielt in grundlegender Rehabilitation geschult. Sie lernen, wie man einen frisch gelähmten Menschen mobilisiert, einfache Bewegungsübungen anleitet oder einen Angehörigen beim Wiedererlernen von Alltagsfähigkeiten coacht. Ziel solcher Programme ist es, die Helfer auszustatten, damit sie Familien und Patienten zu Hause begleiten und unterstützen können. Im Weinland-Distrikt der südafrikanischen Kap-Region etwa wurde ein Trainingsprogramm für CHWs entwickelt, das genau darauf ausgerichtet ist. Diese Helfer besuchen die Schlaganfallpatienten in ihren Hütten, zeigen den pflegenden Angehörigen hilfreiche Handgriffe und Übungen und werden so zu einem Bindeglied zwischen Patient, Familie und dem Gesundheitssystem. Die gesamte Dorfgemeinschaft wird involviert: Nachbarn schauen nach dem Rechten, Freiwillige organisieren vielleicht einen Fahrdienst zum fernen Arzt oder helfen beim Umbau der Hütte, damit sie rollstuhlgerecht wird. Es heißt oft: “It takes a village to raise a child.” Genauso kann man sagen: Es braucht ein ganzes Dorf, um einen kranken Menschen wieder auf die Beine zu bringen. Dieses afrikanische Gemeinschaftssprichwort wird hier lebendig. Wenn professionelle Hilfe fehlt, rückt die Gemeinschaft enger zusammen und fängt auf, was sie kann – mit Herz und Hingabe.
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Kultur des Miteinanders: Zwischen Stigma und Stärke
Die Einstellung gegenüber Behinderung ist in Afrikas Kulturen von gegensätzlichen Strömungen geprägt. Einerseits existieren leider noch vielerorts Stigmatisierung und Aberglauben. In manchen Gemeinschaften werden Behinderungen als Fluch, Strafe oder Folge böser Geister angesehen. Solche kulturellen Überzeugungen können dazu führen, dass Betroffene ausgegrenzt werden oder Familien aus Scham zögern, Hilfe zu suchen. Besonders Menschen mit geistigen Behinderungen oder epileptischen Anfällen werden mancherorts versteckt, weil traditionelle Vorstellungen ihnen mit Furcht und Unwissenheit begegnen. Dieses Stigma erschwert die Rehabilitation zusätzlich – wie soll jemand Ergotherapie in Anspruch nehmen, wenn die Dorfnachbarn mit Unverständnis oder Ablehnung reagieren? Doch auf der anderen Seite schöpfen afrikanische Gesellschaften auch aus tief verwurzelten Werten der Solidarität und Menschlichkeit. Im südlichen Afrika gibt es das Konzept “Ubuntu”, was sinngemäß bedeutet: “Ich bin, weil wir sind.” Es drückt die Überzeugung aus, dass jeder Mensch durch die Gemeinschaft definiert wird und jeder die Unterstützung und Würde der Gemeinschaft verdient. Dieser Geist von Ubuntu zeigt sich darin, dass sich Familienbanden und Nachbarschaften in Afrika oft sehr eng unterstützen. Großfamilien leben zusammen und kümmern sich gemeinsam um Kinder, Alte und Kranke. Für Menschen mit Behinderung kann das zum Segen werden: Statt isoliert zu werden, sind sie – je nach Kultur – selbstverständlich in alle Aktivitäten integriert. In ländlichen Gemeinden übernimmt häufig die Großfamilie oder das Dorfkollektiv die Betreuung.
Ergotherapeuten, die in Afrika arbeiten, achten daher darauf, das Umfeld in die Therapie einzubeziehen. Therapie findet nicht im sterilen Einzelraum statt, sondern im Hof der Familie, auf dem Feld oder dem Marktplatz – überall dort, wo das Leben der Menschen spielt. Die gemeinsamen kulturellen Werte können dabei als Brücke dienen: Ein Therapeut, der die Sprache spricht und die Traditionen respektiert, kann Übungen so gestalten, dass sie in den Alltag passen. Zum Beispiel werden in einigen Projekten traditionelle Handwerkskünste genutzt – Weben, Töpfern oder Musizieren – um motorische Fähigkeiten zu fördern und zugleich kulturelle Identität zu stärken. Die Kultur des Miteinanders schafft Akzeptanz: Wo Ubuntu gelebt wird, tragen Nachbarn und Freunde ganz selbstverständlich ihren Teil dazu bei, dass ein beeinträchtigter Mensch weiterhin zum Dorf gehört – sei es, indem sie ihn zu Veranstaltungen mitnehmen, für ihn mitarbeiten oder einfach da sind, um gemeinsam zu lachen. So wird aus Ausgrenzung allmählich Inklusion, und aus Scham wird Stolz darüber, was jemand trotz Behinderung kann.
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Ausblick: Aufbruch der Hoffnung
Trotz aller Hindernisse bewegt sich etwas in Afrika. Von Ghana bis Tansania, von Äthiopien bis Malawi entstehen kleine Lichtblicke: Jede neue Ergotherapeutin, die ausgebildet wird und in ihr Heimatdorf zurückkehrt, jeder Rollstuhl, der aus lokalen Materialien zusammengezimmert wird, jedes Dorf, das gemeinsam einen Rehagarten anlegt, ist ein Schritt nach vorn. Die Zahl der Fachkräfte nimmt langsam zu – Ghana etwa hat inzwischen einen eigenen Berufsverband und arbeitet mit Ländern wie Südafrika zusammen, um Know-how aufzubauen. Internationale Hilfsorganisationen und lokale Initiativen ziehen an einem Strang, um Projekte nachhaltig zu verankern statt kurzfristiger Hilfe. Vor allem aber sind es die Menschen vor Ort, die den Wandel tragen: die Mütter, Väter, Geschwister, die trotz fehlender Ressourcen tagtäglich unermüdlich pflegen und üben; die freiwilligen Helfer, die an das Recht jedes Menschen auf Teilhabe glauben und dafür eintreten.
Afrikas Ergotherapie befindet sich noch im Aufbau – doch sie wächst mit afrikanischen Lösungen heran. Lösungen, die von Gemeinschaft, Kreativität und kultureller Weisheit geprägt sind. Jeder kleine Erfolg, sei es ein Patient, der wieder selbstständig essen kann, oder ein Kind, das dank einer angepassten Schulbank am Unterricht teilnimmt, erzählt eine Geschichte der Hoffnung. Diese Hoffnung ist emotional spürbar und steckt an: Sie zeigt, dass Teilhabe und Würde selbst unter schwierigsten Bedingungen möglich sind, wenn Menschen zusammenhalten. Ergotherapie in Afrika bedeutet oft mehr als medizinische Behandlung – sie ist ein Gemeinschaftsprojekt, ein Ausdruck von Nächstenliebe und Erfindergeist. Und sie macht Mut, dass kein Mensch mit seiner Behinderung alleine bleiben muss.
Die Herausforderungen bleiben groß: Es fehlt an Personal, Geld und oft an politischem Willen. Aber die kreativen Lösungen und die Wärme der Gemeinschaft strahlen bereits heute weit über einzelne Dörfer hinaus. Sie stehen sinnbildlich dafür, dass auch im Schatten der Armut und Vernachlässigung Blumen der Hoffnung wachsen. Afrikas Dörfer nehmen die Therapie selbst in die Hand – und schenken damit unzähligen Menschen neue Perspektiven und das Gefühl, wertvoller Teil der Gemeinschaft zu sein. Diese leisen Erfolgsgeschichten berühren emotional und zeigen informativ, wie Ergotherapie in Afrika Schritt für Schritt Wirklichkeit wird: mit Herz, Verstand und der Kraft der Gemeinschaft.





