Ein wacher Geist im Dauerlauf
Wenn ein Kind nicht stillsitzen kann, ständig unter Strom steht und sich scheinbar von jedem kleinen Reiz ablenken lässt, geraten Eltern oft an ihre Grenzen. Die Diagnose ADHS, Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, bringt meist viele Fragen mit sich: „Wie kann ich meinem Kind helfen?“, „Was braucht es wirklich?“ und „Wie schaffen wir es, den Alltag zu entlasten?“
Genau hier setzt die Ergotherapie an, nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern mit spielerischer Neugier, Struktur und Herz. Sie eröffnet Kindern mit ADHS neue Wege, sich selbst besser zu steuern, ihre Umwelt bewusster wahrzunehmen und soziale Fähigkeiten zu entfalten. Dabei geht es nicht um Leistung oder Perfektion, sondern um Selbstwirksamkeit, Freude am Tun und kleine, aber wertvolle Fortschritte.
In diesem Artikel zeigen wir, wie Ergotherapie Kindern mit ADHS helfen kann und wie Eltern aktiv dazu beitragen können, dass das Gelernte auch zu Hause, in der Schule und im Leben wirkt. Denn Veränderung beginnt dort, wo Vertrauen wächst, Schritt für Schritt.
•
Was ist ADHS? – Mehr als nur Zappeligkeit
ADHS ist keine Modeerscheinung, sondern eine ernstzunehmende neurobiologische Störung, die das Leben eines Kindes stark beeinflussen kann. Betroffene Kinder haben Schwierigkeiten, ihre Aufmerksamkeit zu bündeln, Impulse zu kontrollieren und ihre innere Unruhe zu zügeln. Sie handeln oft, bevor sie nachdenken, verlieren sich in Kleinigkeiten oder können sich überhaupt nicht auf eine Aufgabe einlassen.
Dabei ist ADHS so individuell wie jedes Kind selbst. Manche Kinder sind ständig in Bewegung, andere träumen sich still aus der Welt heraus. Fachleute unterscheiden zwischen drei Hauptformen: der unaufmerksamen (ADS), der hyperaktiv-impulsiven und der kombinierten Form.
Doch ADHS betrifft nicht nur das Kind, sondern das ganze Familiensystem. Streit, Schulprobleme, Schlafmangel und Sorgen um die Zukunft können Eltern zermürben. Wichtig ist: ADHS ist keine Frage von Erziehung, sondern von neurologischer Reizverarbeitung. Und genau hier kann gezielte Unterstützung ansetzen, individuell, alltagsnah und mit einer großen Portion Verständnis.
•
Warum Ergotherapie? – Ein geschützter Raum zum Wachsen
Kinder mit ADHS erleben ihren Alltag oft als überfordernd: zu viele Reize, zu wenig Struktur, zu viele Missverständnisse. In der Ergotherapie finden sie einen Ort, an dem sie einfach Kind sein dürfen, mit all ihren Besonderheiten. Hier geht es nicht um das Abarbeiten von Defiziten, sondern um das Entfalten von Potenzialen.
Die Ergotherapie betrachtet das Kind in seinem gesamten Lebensumfeld, also nicht nur in der Therapie, sondern auch zu Hause, in der Schule und im sozialen Miteinander. Ziel ist es, die Handlungsfähigkeit im Alltag zu verbessern. Das bedeutet: bessere Konzentration, mehr Selbstregulation, mehr soziale Sicherheit.
Dabei arbeitet die Ergotherapie mit alltagsnahen und kindgerechten Methoden. Durch gezielte Übungen, Spiele, Bewegung und kreative Aufgaben werden nicht nur Fähigkeiten trainiert, sondern auch das Selbstvertrauen gestärkt. Denn jedes Erfolgserlebnis, so klein es auch sein mag, bringt das Kind ein Stück näher zu mehr Eigenständigkeit und innerer Ruhe.
Für Eltern ist die Ergotherapie außerdem ein wertvoller Begleiter: Sie erhalten Impulse, wie sie ihr Kind im Alltag besser verstehen und gezielt unterstützen können. So entsteht ein gemeinsamer Weg, getragen von Verständnis, Struktur und kleinen Schritten, die Großes bewirken.
•
So arbeitet die Ergotherapie mit ADHS-Kindern
Ergotherapie bei ADHS ist alles andere als trocken oder eintönig, sie ist lebendig, kreativ und genau auf die Bedürfnisse des Kindes abgestimmt. Der Therapieansatz verbindet Bewegung, Sinneswahrnehmung und gezieltes Training mit spielerischen Elementen. Denn gerade Kinder mit ADHS lernen am besten über das Tun, über Erfahrungen und über Erfolgserlebnisse im Handeln.
Ein zentrales Ziel ist es, die Selbstregulation zu fördern, also die Fähigkeit, eigene Impulse besser zu kontrollieren, Gefühle einzuordnen und sich trotz innerer Unruhe auf eine Aufgabe zu konzentrieren. Dafür nutzt die Ergotherapie unterschiedliche Methoden:
- Sensorische Integration: Viele ADHS-Kinder nehmen Reize anders wahr, manche überempfindlich, andere unterempfindlich. Ergotherapeut*innen helfen, das Nervensystem zu regulieren, z. B. durch schaukelnde Bewegungen, taktile Reize oder Gleichgewichtsspiele.
- Alltagstraining: In kleinen Rollenspielen oder praktischen Übungen wird geübt, was im Alltag schwerfällt – z. B. stilles Warten, sich melden, Aufgaben beenden.
- Soziales Verhalten üben: In Gruppen lernen Kinder, sich in andere hineinzuversetzen, Frustration auszuhalten und Konflikte gewaltfrei zu lösen.
- Konzentration stärken: Über Bewegungsübungen, kreative Aufgaben oder Spiele mit klaren Regeln trainieren Kinder ihr Durchhaltevermögen und ihre Aufmerksamkeit.
Die Therapeutinnen arbeiten dabei eng mit Eltern und, wenn möglich, auch mit Lehrerinnen zusammen. So kann das Kind im geschützten Rahmen üben, was es draußen braucht: Ruhe in sich selbst, Struktur im Tun und Vertrauen in die eigene Stärke.
•
Beispielübungen aus der Praxis – Wenn Therapie Spaß macht
Kinder mit ADHS brauchen keine starren Lehrpläne, sie brauchen Erlebnisse, bei denen sie sich selbst entdecken dürfen. In der Ergotherapie geschieht das oft spielerisch, bewegt und kreativ. Dabei geht es nicht um das „richtige“ Verhalten, sondern um das Erleben von Handlungskompetenz: „Ich kann das! Ich schaffe das!“
Hier einige bewährte Übungen, die in der Therapie regelmäßig eingesetzt werden:
- Bewegte Stille
Ein Kind mit ADHS soll stillsitzen? Kaum vorstellbar, aber möglich, wenn man Bewegung und Ruhe sinnvoll kombiniert. Zum Beispiel mit einem Balancier-Parcours, bei dem das Kind ganz ruhig einen Gegenstand auf dem Kopf balancieren muss. Oder mit Yoga-ähnlichen Tierübungen, die Spannung abbauen und Körpergefühl vermitteln. - „Stop & Go“-Spiele
Diese Spiele trainieren die Impulskontrolle: Bei Musik oder einer Geschichte heißt es „Stopp“ und das Kind muss augenblicklich reagieren. Klassiker wie „Feuer, Wasser, Sturm“ oder „Ampelspiele“ fördern das schnelle Umschalten zwischen Aktion und Innehalten. - Der Konzentrations-Parcours
Ein aufgebauter Hindernisweg, der motorische Aufgaben mit kleinen Denkaufgaben verbindet: Rechenaufgaben lösen, Farben sortieren, Muster nachlegen und das alles in Bewegung. Das macht nicht nur Spaß, sondern stärkt gezielt die Aufmerksamkeitssteuerung. - Gefühlsampel & Wutball
Emotionsregulation ist ein zentrales Thema bei ADHS. Mit Symbolkarten, Farbsystemen (z. B. grün = ruhig, rot = aufgewühlt) und kleinen Ritualen lernen Kinder, ihre Gefühle zu erkennen und zu benennen. Ein „Wutball“ aus Knetmasse oder Stoff kann helfen, überschüssige Energie abzubauen, ohne anderen zu schaden.
Diese Übungen sind keine Zaubertricks, aber sie sind Werkzeuge, mit denen Kinder lernen, sich in ihrer Welt besser zurechtzufinden. Sie erleben: Ich darf wild sein und ich kann lernen, zur Ruhe zu kommen. Schritt für Schritt, mit Freude am Tun.
•
Eltern als Co-Therapeuten – Was zu Hause wirkt
Die besten Fortschritte entstehen, wenn das, was in der Ergotherapie geübt wird, auch im Alltag aufgegriffen wird. Denn Kinder mit ADHS brauchen vor allem eines: Verlässlichkeit und Wiederholung. Eltern spielen dabei eine entscheidende Rolle, nicht als strenge Trainer, sondern als verständnisvolle Begleiter auf dem Weg zu mehr Selbstkontrolle und Struktur.
Einige bewährte Strategien für zu Hause:
- Feste Rituale schaffen
Morgens aufstehen, anziehen, Frühstück, Hausaufgaben, immer zur gleichen Zeit, in der gleichen Reihenfolge. Solche Routinen geben Sicherheit und nehmen dem Tag seine Unruhe. - Reizüberflutung reduzieren
Ein aufgeräumter Arbeitsplatz, leise Hintergrundgeräusche und abgeschaltete Bildschirme helfen dem Kind, sich zu fokussieren. Auch klare, kurze Ansagen statt langer Erklärungen wirken Wunder. - Positive Verstärkung nutzen
Lob und kleine Belohnungen sind wirkungsvoller als ständige Kritik. Wenn das Kind eine Aufgabe schafft, ruhig bleibt oder seine Emotionen mitteilt, sollte das gesehen und anerkannt werden, ehrlich, direkt und auf Augenhöhe. - Gemeinsame Übungen einbauen
Viele Therapieübungen lassen sich einfach in den Alltag integrieren: ein kleines Bewegungs-Spiel vor den Hausaufgaben, ein „Wutball“ im Kinderzimmer oder ein Abendritual mit Atemübungen. - Pausen bewusst gestalten
Kinder mit ADHS brauchen regelmäßige Erholungsphasen. Statt überfordernden Freizeitaktivitäten helfen oft kurze Momente der Ruhe: ein Spaziergang, Kneten, Musik hören oder Kuschelzeit.
Was Eltern brauchen, ist Geduld, mit dem Kind, aber auch mit sich selbst. Niemand macht alles perfekt. Aber mit Verständnis, kleinen Erfolgen und der Unterstützung durch die Ergotherapie kann der Familienalltag Stück für Stück leichter werden. Eltern sind keine Zuschauer, sie sind Teil des Erfolgs.
•
Erfolg ist mehr als stillsitzen – Was Eltern wissen sollten
In der Arbeit mit Kindern mit ADHS geht es nicht darum, sie „funktionstüchtig“ zu machen oder sie in ein Raster zu pressen. Es geht darum, ihnen zu helfen, sich selbst besser zu verstehen und ihren Platz in einer oft zu schnellen, zu lauten Welt zu finden. Das braucht Zeit und eine andere Definition von Erfolg.
Ein Fortschritt kann sein, dass ein Kind es schafft, fünf Minuten konzentriert zu malen. Oder dass es zum ersten Mal nicht laut wird, wenn es warten muss. Oder dass es selbst bemerkt: „Ich bin gerade auf rot.“ Solche Momente sind kleine Meilensteine und sie verdienen es, gefeiert zu werden.
Rückschläge gehören dazu. Ein unruhiger Tag, ein Wutanfall, ein Streit mit dem Geschwisterkind, all das ist Teil des Prozesses. Wichtig ist, nicht an sich oder dem Kind zu zweifeln, sondern den Blick auf das zu richten, was bereits gewachsen ist.
Auch die Zusammenarbeit mit Schule, Kindergarten oder Hort kann helfen, das Kind ganzheitlich zu unterstützen. Wenn alle Beteiligten an einem Strang ziehen – mit Verständnis, klaren Regeln und gemeinsamer Kommunikation, kann das Kind lernen, mit seiner Energie verantwortungsvoll umzugehen.
Erfolg in der Ergotherapie heißt nicht, dass das Kind „normal“ wird. Es heißt, dass es mehr über sich selbst lernt. Dass es Strategien entwickelt, mit schwierigen Situationen umzugehen. Und dass es spürt: Ich bin okay, so wie ich bin und ich kann jeden Tag ein Stück besser werden.
•
Jedes Kind kann lernen, sich selbst zu steuern
Kinder mit ADHS sind keine Problemkinder, sie sind Kinder mit besonderen Stärken, großem Potenzial und einem inneren Motor, der manchmal schwer zu zähmen ist. Sie brauchen keine ständige Korrektur, sondern jemanden, der sie sieht, versteht und ihnen mit Geduld den Weg zeigt.
Die Ergotherapie bietet dafür einen geschützten Rahmen, in dem Lernen nicht über Druck, sondern über Erfahrung, Bewegung und spielerisches Tun geschieht. Sie schenkt Kindern nicht nur bessere Konzentration oder mehr Selbstkontrolle, sondern oft auch ein neues Gefühl für sich selbst: „Ich kann etwas verändern.“
Und sie schenkt auch Eltern neue Zuversicht. Denn mit der richtigen Begleitung, mit kleinen Ritualen, gemeinsamen Übungen und einer großen Portion Verständnis wird der Alltag nicht nur bewältigbar, er wird lebbarer.
ADHS ist kein Hindernis für ein gutes Leben. Mit Unterstützung, Struktur und liebevoller Konsequenz können Kinder lernen, ihren Weg zu gehen, in ihrem Tempo, auf ihre Weise. Und manchmal sind es genau diese Kinder, die später die Welt verändern.
•
Spiele-Tipps für mehr Aufmerksamkeit zu Hause
Kinder mit ADHS lernen über Bewegung, Spannung und vor allem über Spaß. Spiele sind daher eine wunderbare Möglichkeit, Konzentration und Impulskontrolle ganz nebenbei zu fördern. Hier findest du erprobte Spielideen, die zu Hause für mehr Fokus, Struktur und Freude sorgen können:
- Stopp-Tanz
Musik an – alle tanzen wild. Musik aus – alle frieren ein wie Statuen. Dieses Spiel fördert die Reaktionsfähigkeit und das Umschalten zwischen Aktion und Ruhe. - Der Geräusche-Dschungel
Augen zu und Mama oder Papa machen leise Geräusche (z. B. Schlüssel klingeln, Papier rascheln, Flasche öffnen). Das Kind muss raten, was es hört. Eine tolle Übung für die auditive Wahrnehmung und Aufmerksamkeit. - Konzentrations-Memory
Selbstgemachtes Memory mit Bildern oder Begriffen, die das Kind mag, am besten mit wenigen Karten starten. Beim Aufdecken: konzentrieren, beobachten, merken. - „Ich sehe was, was du nicht siehst“, mit Extra-Regeln
Ein Klassiker, aber mit kniffligerer Variante: z. B. „Ich sehe was, das NICHT blau ist“ – so wird das Denken in andere Richtungen angeregt und die Impulskontrolle trainiert. - Puste-Fußball
Ein Wattebausch wird mit Strohhalmen über den Tisch gepustet, wer ins Ziel trifft, gewinnt. Fördert gezielte Bewegung, Geduld und Feinmotorik und macht riesig Spaß! - Der stille Ninja
Wer schafft es, eine Aufgabe (z. B. leise an Mama vorbeischleichen) ganz langsam und konzentriert auszuführen, ohne entdeckt zu werden? Fördert Impulskontrolle, Körperspannung und Aufmerksamkeit.
💡 Tipp: Die besten Spiele sind die, bei denen Kinder gar nicht merken, dass sie gerade etwas Wichtiges lernen. Weniger ist dabei oft mehr, lieber ein Spiel regelmäßig spielen, als ständig Neues beginnen.
Wenn das Spielen zur Routine wird, wird auch das Lernen leichter. Und manchmal beginnt der Weg zu mehr Aufmerksamkeit genau dort, beim gemeinsamen Lachen am Wohnzimmertisch.





